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wichtiger Punkt. Eine starke Vision wie Industrie 4.0 braucht genügend Zeit. Wir sollten nicht erwarten, dass alle Ak- teure auf dem gleichen Stand sind und alles fertig ist. Und wir dürfen nicht die Geduld verlieren. Nicht nach nur zehn Jahren. Denken Sie an Amazon-Gründer Jeff Bezos, der in den 1980er-Jahren die Vision hatte, die Schwerindustrie in den Weltraum zu verlagern und die Erde da- mit in eine Art Nationalpark zu verwan- deln. Erst heute, vier Jahrzehnte später, entwickeln sich private Raumfahrtunter- nehmen, welche die Vision Wirklichkeit werden lassen könnten. Große Träume können ruhig Zeit in Anspruch nehmen. Und auf der Reise tut sich ja schon eini- ges. Bei Multivac haben wir 2017 angefan- gen, uns intensiv mit dem Thema Indus- trial Internet of Things zu beschäftigen. Seitdem haben wir und unsere Techno- logie-Zulieferer rasante Fortschritte ge- macht. Die Vernetzung der Maschinen und die Infrastruktur sind beachtlich. Mittlerweile kommen sogar chinesische Experten auf unsere Messestände und fragen nach Industrie 4.0. Das ist doch ein gutes Zeichen. Es werden noch große Dinge auf uns zukommen.
Fleischmagazin: Was ermöglicht die Di- gitalisierung der deutschen Industrie ?
Grathwohl: Ich sehe die Digitalisierung als ein mächtiges Instrument zur Wirt- schaftsförderung. Gerade dem Maschi- nenbau, das Steckenpferd der Deut- schen, bietet die digitale Transformati- on die Chance, sich neu zu positionieren und zusätzliche Märkte zu erschließen. Ein Beispiel ist der Service. Hier werden sich die Geschäftsmodelle in den nächs- ten zehn Jahren wandeln – getrieben von Industrie 4.0 Technologie. Weg vom klassischen Ersatzteilgeschäft, hin zum proaktiven, kundenorientierten Service. Dank Digitalisierung, Vernetzung und Schlüsseltechnologien wie Big Data und Künstliche Intelligenz können Mitarbei- ter den Live-Betrieb von Maschinen und Anlagen analysieren, den Durchsatz op- timieren, Fehler schneller beheben und somit die Verfügbarkeit erhöhen. Servi- ces, die für Kunden bares Geld bedeuten und entsprechend attraktiv sind. Doch
um Wirtschaftsförderung allein geht es nicht. Die Digitalisierung ist in meinen Augen auch ein Gehilfe der Nachhal- tigkeit. So wird es dank der Vernetzung beispielsweise möglich, dass Maschi- nen und Anlagen Live-Messwerte zum Strom-, Druckluft- und Kühlmedium- verbrauch bereitstellen, Kennzahlen, die Unternehmen unterstützen, Prozes- se transparenter zu machen und Spar- potenziale zu erkennen.
Fleischmagazin: Was muss in den nächsten Jahren passieren, um Fort- schritte beim Thema Industrie 4.0 zu erzielen ?
auch die der Anwender. Hier spielt die Datensicherheit eine große Rolle. Zum Glück haben immer weniger unserer Kunden Bedenken, wenn es etwa darum geht, Daten in die Cloud zu schicken. Es hat sich in letzter Zeit eine Art Grund- vertrauen eingestellt – auch in Zusam- menarbeit mit den etablierten Cloud- Providern wie Microsoft oder Amazon. Wir diskutieren heute weniger über Ge- fahren und mehr über Funktionen und Mehrwert.
Fleischmagazin: Was müsste die Politik tun, um Digitalisierung und Industrie 4.0 voranzutreiben ?
Dr. Marius Grathwohl, Vice President Digital Products and Trans- formation bei Multivac:
„Mittlerweile kommen sogar chinesische Experten auf unsere Messestände und fragen nach Industrie 4.0. Das ist doch ein gutes Zeichen“.
Grathwohl: Industrie 4.0 hat nicht nur Bedeutung für das produzierende Ge- werbe. Zu den Anwendungsfeldern zäh- len auch Mobilität, Gesundheit, Klima und Energie. Einen entsprechenden Fokus sollte die Politik auf das Thema legen. Und auf die Hemmnisse, mit de- nen sich Unternehmen herumschlagen. Dazu zählen etwa fehlende finanzielle Mittel und der Fachkräftemangel. Es wä- re also wünschenswert, dass die Politik Unternehmen bei der Anwendung von Industrie-4.0-Applikationen finanziell stärker unterstützt, wie es in anderen europäischen Ländern der Fall ist. Auf- merksamkeit und Unterstützung verdie- nen in meinen Augen aber auch Initiati- ven wie die Open Industry 4.0 Alliance. Die Umsetzungsgemeinschaft spielt eine bedeutende Rolle, wenn es darum geht, für Industry 4.0 ein offenes Öko- system mit maximaler Interoperabilität zu schaffen.
Automatisierung
 Grathwohl: Die deutschen Maschinen- hersteller waren beim Thema Digitali- sierung in den letzten Jahren fleißig. Die meisten haben ein eigenes Portfolio an digitalen Produkten und Smart Services entwickelt. Jetzt stellt sich die Frage: Wie bauen wir ein funktionierendes Ökosys- tem auf, wie schaffen wir Schnittstellen, damit die Technologien herstellerüber- greifend zusammenarbeiten und für Anwender maximalen Mehrwert schaf- fen ? Ich bin hier guter Dinge. Denn es gibt einige vielversprechende Ansätze, die Marktreife erlangt haben. Denken Sie nur an die Verwaltungsschale. Mit diesem branchenneutralen Standard wird es möglich, dass vernetzte Maschi- nen und Bauteile im Internet der Dinge miteinander kommunizieren. Somit ist eine weltweite Interoperabilität sicher- gestellt. Wichtig für ein Fortschritt beim Thema Digitalisierung ist aber nicht nur die Offenheit der Hersteller, sondern
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