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  forschung Kiel hat sie jetzt einen Blick rund 20.000 Jahre zurück bis in die letzte Eiszeit geworfen.
Sedimente sind Archiv der Klimageschichte
Informationen über die jeweiligen Umweltverhält- nisse lassen sich aus den Ablagerungen herauslesen, die sich im Laufe der Jahrtausende am Grund des Meeres angesammelt haben. „Diese Sedimente sind ein natürliches Archiv der Klimageschichte“, sagt Ul- rike Herzschuh. Wer das Material mit einem Bohrer an die Oberfläche holt, kann in den unterschiedlich alten Schichten die Spuren längst verstorbener Mee- resbewohner finden. Mithilfe der sogenannten Shot- gun-Sequenzierung hat das Team DNA von Vertre- tern aus 167 Familien von Meeresbewohnern gefun- den, deren Lebensraum das Eis oder das freie Wasser ist. „Wir waren selbst überrascht, dass in diesen alten Sedimenten Informationen über das komplette Öko- system stecken“, sagt Ulrike Herzschuh.
Typisch für die kälteren Phasen der letzten Eiszeit waren demnach Diatomeen und andere Algen, die in oder unter dem Meereis leben. Diese winzigen Sau- erstoffproduzenten waren eine beliebte Nahrungs- quelle für Ruderfußkrebse, die ihrerseits von Fischen aus der Familie der Dorsche wie dem Pazifischen Ka- beljau, dem Alaska-Seelachs und dem Polardorsch gefressen wurden. In den wärmeren Epochen ohne Eis gab es dagegen deutlich weniger Diatomeen und Ruderfußkrebse, dafür aber umso mehr Cyanobakte- rien. Am Meeresgrund breiteten sich in geschützten Buchten Seegraswiesen aus und statt der Dorsche schwammen in der Beringsee mehr Lachse und Pa- zifische Heringe.
Wenn sich das Meereis weiter zurückzieht, wird sich der Fang einiger beliebter Speisefische wie Seelachs und Kabeljau in der Beringsee womöglich nicht mehr lohnen.
Ökosystem baut sich komplett um
„Wir können damit nun zum ersten Mal zeigen, wie sich mit dem Rückgang des Meereises das komplet- te Ökosystem umbaut“, resümiert Ulrike Herzschuh. „Das fängt bei den Algen an und geht bis zu den Fi- schen und Walen.“ Ähnlich tiefgreifende Verände- rungen erwartet das Team auch für eine wärmere und weitgehend eisfreie Zukunft. Das aber könnte massive ökologische und wirtschaftliche Auswirkun- gen haben. So wird sich der Fang einiger beliebter Speisefische wie Seelachs und Kabeljau in der Be- ringsee womöglich nicht mehr lohnen. Dafür könn- ten der Buckellachs und der Pazifische Hering weiter nach Norden vordringen.
Dazu kommt, dass die Planktongesellschaften unter eisfreien Bedingungen wohl auch weniger Kohlenstoff in die Tiefe transportieren und in den Sedimenten de- ponieren. Möglicherweise können die Meere dann nicht mehr so viel Kohlendioxid speichern, was den Klimawandel weiter anheizen würde. Das Verschwin- den des Meereises könnte also auch dazu führen, dass diese Ökosysteme wichtige Dienstleistungen nicht mehr in gewohntem Umfang bereitstellen können.
Originalpublikation:
Heike H. Zimmermann, Kathleen R. Stoof-Leichsenring, Viktor Dinkel, Lars Harms, Luise Schulte, Marc-Thorsten Hütt, Dirk Nürnberg, Ralf Tiedemann, Ulrike Herzschuh:
Marine ecosystem shifts with deglacial sea-ice loss inferred from ancient DNA shotgun sequencing.
Nature Communications (2023).
Die Forscher erwarten, dass der Pazifische Hering weiter nach Norden vordringen wird.
www.fischmagazin.de
FischMagazin 8/2023 67
FORSCHUNG
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Welche lang­ fristigen Folgen die geringe sommerliche Meereisbede­ ckung für die Meeresbewoh­ ner hat, ließ sich bisher
nur schwer einschätzen.
  FOTO: DIRK NÜRNBERG
 














































































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